Karl Lütge stellt eine heitere Frage zu einem heiteren Thema, das nachweislich viele angeht.
Ohne jede Beschönigung und mit nur geringer Scheu gebe ich zu, dass ich gelegentlich Zucker entwendet habe. Sogar öfter. Ich trage in meiner Rocktasche fast immer kleine Zuckerstückchenpackungen als Beweismittel für meine Selbstbeschuldigung. Mich damit zu rechtfertigen, daß die kleinen verpackten Zuckerstücke dem „Lux“, der „Mietz“, dem Schimmel oder den Schwänen und Enten am Uferkorso von Bad Wiessee oder dem Klapperstorch für irgendein geeignetes Fenster zugedacht sind, lehne ich ausdrücklich ab.
Ich trage die durch kluge Maschinen fest verpackten Zuckerstückchen lose in der Rocktasche mit mir herum, weil ich eine bestimmte Absicht mit ihnen verfolge. Es sind vorerst nur sechs. Immerhin aber ergibt sich damit für Juristen der Tatbestand einer »fortgesetzten Entwendung«.
Es läßt sich sogar nachweisen, wo ich diese sechs Zuckerpackungen entwendet habe, denn die Herkunftsbezeichnung tragen sie sämtlich aufgedruckt und deutlich lesbar: „Café im Giebel“, Stuttgart, „Irmgartz“, Bad Neuenahr, „Hotel Römerbad“, Badenweiler, „Schloss-Hotel“, Karlsruhe, und „Hotel de la Paix“ in Genf; das sechste ist ohne lesbare Aufschrift, sie ist abgewetzt.
Sehen Sie, wegen dieser Aufdrucke habe ich den Zucker mitgehen heißen, als Sammelobjekt gewissermaßen. Ich rechne mit mildernden Umständen. Zumal durch Umfrage erwiesen ist, daß andere Leute auch Zuckerpäckchen dieser Art sammeln. Würden Sie mir glauben, wenn ich sage, das Hotel oder das Restaurant, das solche bedruckten Zuckerstückchen verwendet, sieht es ganz gern, daß sie entwendet werden? Ein Wortspiel? Nein, ein ganz natürlicher Vorgang! Der Aufdruck nämlich, Sie werden diesen Umstand längst beachtet haben, wirbt schließlich für das Haus, das auf den Zuckerpäckchen deutlich lesbar vermerkt steht! Wie aber kann es anders wirken, wenn nicht das Zuckerstückchen mitgenommen wird? Daheim gelesen, erinnert sich der gewesene Gast voll Freude an all die Restaurants, die er besuchte – und die »Werbung« ist komplett!
Hoteliers haben mir verraten, daß von diesen Zuckerpackungen etwa ein Drittel mehr, als der normale Verbrauch beträgt, gesammelt wird.
Gleichwohl sind zahlreiche Hotels in letzter Zeit von Zuckerpäckchen mit Aufdruck abgekommen und stellen Schalen mit Streuzucker auf den Tisch: Bitte, bediene dich!
Verstehen Sie den zarten Wink? Streuzucker kann kaum jemand so gewandt entwenden wie Zuckerstückchen. Zuckerstückchen ohne Verpackung dem Gast anzubieten, ist nicht schicklich. Und weil nun schon verpackt, wird auf die Verpackung der Name des Hotels, Sanatoriums, Pensionshauses, Restaurants oder Cafés aufgedruckt! Und: das alles geschieht natürlich in der stillen Hoffnung, dass einige Stücke, sagen wir ruhig: ein gutes Drittel, den Weg in die Hände von „Zuckerstückchenpäckchensammlern“ findet.
Sammeln Sie auch schon Zuckerstückchen?
Aus: „Bäckerblume“, 3. Januar 1958.