Sammeln Sie auch Zuckerstückchen?
Selbstverständlich ist es sentimental und etwas kindlich, das Sammeln dieser kleinen, originell verpackten zierlich beschrifteten Zuckerstückchen. Aber es gibt nur wenige. Frauen, die diesen winzigen viereckigen Päckchen, die im Café, Restaurant, Speisewagen neben die Kaffeetasse zu liegen kommen, zu widerstehen vermögen. Unversehens, vielleicht unbewußt, beiläufig im Gespräch, greift die Hand nach den Stückchen, um sie unbemerkt in der Mantel-, Kostüm- oder Handtasche verschwinden zu lassen.
Nicht selten trifft uns bei dieser Geste der befremdete, fragende oder vernichtende Blick irgendeines vernünftigen, sachlich denkenden Gegenüber, und wir murmeln rasch etwas von »aufbewahrt für Pferde, Hunde oder Kinder«. Das ist eine glatte Lüge, denn wir sind fest entschlossen, diesen Zucker, wenn notwendig über Kontinente, mit uns zu schleppen und ihn erst in der heimatlichen Wohnung aus der Obhut der Tasche in die einer Blechbüchse hinüberwechseln zu lassen.
Es wäre auch vergebliche Mühe, rationell eingestellten Leuten zu erklären, daß dieses Sammeln von Zuckerstückchen nicht mehr und nicht weniger darstellt als den törichten Versuch mit einem sehr vergänglichen Mittel (wie das der Zucker nun einmal ist), einen bestimmten vergangenen Augenblick oder einen Ort, den man verließ, wieder gegenwärtig zu machen. Und wahrhaftig: Wenn ich an meine Büchse gerate, die im Geschirrschrank irgendwo in einer Ecke verräumt ist, hineingreife und eines der rechteckigen Päckchen betrachte, wird diese kleine, wertlose Substanz unversehens zum Medium.
Da ist etwa das Zucker-Karo mit den klaren, steilen Buchstaben UNESCO. Und schon sehe ich die Ecktheke vor mir in der hohen, weiträumigen Eingangshalle des UNESCO-Gebäudes in Paris. Man hatte sich aus der Sitzung herausgestohlen, von Kopfhörer und Aircondition befreit; stellte sich hinten an die Schlange wartender Menschen, um rasch für wenige Pfennige einen Kaffee oder Tee zu er-stehen: Und man kam unweigerlich mit dem Vordermann, einem wendigen, olivfarbenen Ägypter ins Gespräch oder mit der schönen, zurückhaltenden Inderin im faltenreichen Sari, die hinter uns stand.
Jedes dieser Zuckerstückchen in der Büchse holt eine versunkene Geschichte herauf. Auf dieser Verpackung steht geschrieben »Briancon, Alt, de 1320 m, le plus beau ciel de France« und daneben ist sie hingezeichnet, die alte Burg an der Route Napoleon. An jener Straße, auf der der Korse von Elba aus gegen Paris und gegen seinen Stern marschierte. Und auf jenem gelb gepackten Zucker steht »Hotel Terminus, tout confort«. Das war das sorgfältig geführte Schweizer Hotel, in dem ein echt russischer Großfürst als maitre de salle fungierte. »Saffa Zürich«, dieses Zuckerstückchen brachten wir von der großen Ausstellung der Schwyzerinnen mit und jenen Würfel »carozza con letti« aus dem Speisewagen, Richtung Neapel, von einer gründlich mißglückten, traurigen Reise.
Nicht nur Erlebnisse, auch Kuriositäten enthält die Zuckerdose. In dem Kneippbad standen kleine Papp-Pyramiden, gefüllt mit feinem Streuzucker neben der Kaffee-Haag-Tasse. Die Wände der Pyramide sind mit sinnigen Sprüchen geziert: »Es grüne die Tanne, es wachse das Erz, Gott schenke uns allen ein fröhliches Herz.« Und: »Oben spitz, unten breit, durch und durch voll Süßigkeit.« Und: »Acht auf mich auf Tisch und Decke, wirf mich nicht in jede Ecke.« In Frankreich macht man das eleganter. Auf dem Zucker de la Ville de Nice steht in schicker graphischer Anordnung: »Le soleil, la mer, la montagne. A Nice pour un jour, a Nice pour toujour.«
Überhaupt scheinen die Franzosen ein ganz besonderes Verhältnis zum Zucker zu haben. Ihre Kaffeetassen-Würfelzucker-Packungen sind mindestens dreimal so dick wie die unsrigen; sind kompakte, solide, schwere Brocken. Und bei den Zucker-Verhüllungen werden mindestens ebenso reiche Ideen entwickelt wie in der Haute Couture. Einer der hübschesten Gedanken ist es, den Zucker als Domino-Stein zu verkleiden. In glattes, festes, tintenblaues oder grasgrünes oder zinnoberrotes Pergamentpapier gepackt, tragen die Rechtecke die dicken weißen, unterschiedlich angeordneten Punkte. Und ehe man sich versieht, ist man dabei, die Steine, aneinanderzureihen. Übrigens haben sämtliche französischen Zuckerstücke irgendwo den Aufdruck »pure canne«, reiner Rohrzucker.
Ich pflege die Stückchen bunt durcheinander in die Dose zurückzuwerfen und dann die Würfel einzeln herauszugreifen, wie die Lose aus einer Schicksalstrommel. Methodische Menschen ordnen die süßen Schätze in einer rechteckigen Blechschachtel nach besonderen Gesichtspunkten. Die einen etwa stapeln sie nach Ländern; Norden und Süden, Westen und Osten fein säuberlich getrennt. Andere stellen sie nach der Art der Lokale, aus denen sie wohl stammen, zusammen. Da sind etwa die Kantinen-Zucker: Shell mit der Muschel, Esso, Siemens, Philips, Ford, General Motors usf. Daneben kommen die Boulevard-Cafés zu liegen: voran das Café de la Paix, dann das Salvator, Relais, Paris-Est, Pam-Pam, Café Poccardi, Queenie an der Place de la Madleine. Es folgen die großen Restaurants und die lieblichen Ausflugsorte: Schloß Oberberg bei Sankt Gallen, Römerschanze im Isartal, Stümpfling-Haus am Spitzingsee usw.
Ästhetische Menschen fügen die Stücke nach Farben zusammen, ein dem Auge gefälliges Puzzlespiel. Wieder andere gehen chronologisch vor und können ihr Leben an Hand des Zuckers rekonstruieren oder das Spiel spielen: A la recherche de temps perdu. Wahrhaft nicht zu zählen sind die Möglichkeiten, die eine solche Zuckerstückchen-Sammlung in sich trägt.
Eine dieser Möglichkeiten ist es, daß eines Tages der Zucker dem Weg seiner Bestimmung folgt, daß wir uns von den Stückchen und von unserer Vergangenheit trennen. Vielleicht lassen wir dann in einer Freundesrunde, in der Gesellschaft lieber Gäste, zum letzten Male die Erinnerung, die um jedes Päckchen lebt, aufsteigen. Danach aber ertränken wir Zucker und Erlebnisse in rotem, brennendem Glühwein oder in höllenschwarzem, todesbitterem Mokka.
Anneliese Steinhoff
Aus: DIE WELT, 28. Oktober 1967
Auf dem der Redaktion vorliegenden Ausschnitt hatte eine Sammlerin handschriftlich vermerkt: „So albern ist es also doch nicht. Sammle weiter …“ Vielleicht als Motivation für eine Zuträgerin?